“Ich bin Datenanalyst bei einem großen deutschen Chemiekonzern”, so oder ähnlich endet in der Regel jeder Smalltalk über meine berufliche Tätigkeit. Auf die einzige Rückfrage, die ich dazu je gehört habe – “Und was genau analysierst Du da?” wusste ich spontan auch keine Antwort, die in einen kurzen und dennoch verständlichen Satz gepasst hätte.
“Ich finde Argumente für die Pläne der Geschäftsführung und erstelle zudem unabhängige Analysen und Forschungskonzepte, die dann in der Regel ignoriert werden“, wäre wohl eine treffende, grobe Zusammenfassung meiner beruflichen Aufgaben. Das klingt deprimiert und ausgebrannt, doch es gibt noch eine andere Wahrheit: Ich habe Zugriff auf die größten Datenbanken der chemischen und pharmazeutischen Industrie und es gibt für mich kaum etwas faszinierenderes, als mich wie ein Apnoetaucher in dieses dunkle Datenmeer herabgleiten zu lassen und die schwerelose Datenflut in mich aufzusaugen, bis ich nichts anderes mehr wahrnehme. Wie unter Sauerstoffmangel oder Drogeneinfluss erkenne ich dabei mit Hilfe meiner Algorithmen übergreifende Zusammenhänge, die andere nicht wahrnehmen können. So kann ich stundenlang vorm Rechner sitzen und alles andere ausblenden, bis mich irgendein Anruf aus der Tiefe hervorruft und ich langsam ausatmend wieder auftauche.
Vor einiger Zeit habe ich auf einem meiner Tauchgänge eine Entdeckung gemacht, die mich zutiefst erschreckt und gleichzeitig fasziniert hat. Immer tiefer bin ich in diese Region der Tiefsee eingetaucht und habe dabei immer mehr Hinweise gefunden, dass am Grund meines Datenmeeres ein schreckliches Geheimnis lauert, das vor etwa 20 Jahren entstanden ist und nun langsam auftaucht. Ich bin der Erste, der es zu Gesicht bekommen hat, aber es kommt unabwendbar und immer schneller an die Oberfläche und es wird die Welt verändern.
Pyrrovidon ist ein kreuzvernetztes, unlösliches Polyvinylpolypyrrolidon, das von einer Tochterfirma meines Arbeitgebers hergestellt wird. Es ist als Hilfsstoff allein in Deutschland in insgesamt 187 verschiedenen Präparaten enthalten, vom Abführmittel bis hin zur Zinksalbe und wird durch eine mehrstufige chemische Reaktion erzeugt. Letztendlich ist es ein Kunststoff, dessen Aufnahme als unbedenklich für die menschliche Gesundheit gilt. Der Gesetzgeber hat aus diesem Grund beispielsweise keinen ADI-Wert bestimmt. ADI (=Acceptable Daily Intake) oder auf Deutsch ETD (Erlaubte Tagesdosis) ist ein toxikologischer Grenzwert von Medikamenten oder Lebensmittelzusatzstoffen. Dieser Wert bestimmt, wie viel von einer Substanz bei lebenslanger täglicher Einnahme als medizinisch unbedenklich gilt. Oft wird dieser Wert durch Tierversuche zum Beispiel an Ratten oder Mäusen bestimmt. Obwohl ähnliche Verbindungen mit Polyvinylpolypyrrolidon schon seit Jahren im Einsatz waren, wurden Ende der 80er Jahre auch mit Pyrrovidon Tierversuche durchgeführt. Die Mäuse lebten glücklich bis an ihr natürliches Lebensende. Im Anschluss gab es wenige Monate später eine Testgruppe von 30 Studenten, die Pyrrovidon einnahmen. Auch hier hat man keinerlei Unverträglichkeiten oder gar gesundheitsschädigende Auswirkungen festgestellt. Doch es gibt ein Problem, das man bei vielen Studien dieser Art nicht ausreichend berücksichtigt. Die Zeit. Deshalb hatte man damals keine Bedenken, diese Substanz als Lebensmittelzusatz- und pharmazeutischen Hilfsstoff zuzulassen.
Eigentlich war es ein erklärtes Ziel der Weltgesundheitsorganisation, Lepra bis zum Jahre 2005 auszurotten, ähnlich wie man es mit den Pocken geschafft hat. Und obwohl Lepra eigentlich nur schwach ansteckend ist, ist dies bis heute nicht gelungen. Die Ursache dafür liegt in der langen Inkubationszeit: Von der Infektion mit Mykobakterien, die die Krankheit auslösen, bis zum Auftreten der ersten Symptome vergehen im Schnitt fünf Jahre, je nach Zustand des Immunsystems des Infizierten kann es auch bis zu 20 Jahre dauern, bevor sich die Krankheit bemerkbar macht.
Handelt es sich nicht um eine Infektion mit einem Krankheitserreger, sondern allgemein um eine Belastung des Körpers mit schädigenden Substanzen (in der Medizin auch „Noxen“ genannt, z.B. Gifte, Medikamente, Drogen oder Strahlungseinwirkungen), so spricht man nicht von Inkubations- sondern von Latenzzeit. Die Latenzzeit beschreibt die symptomfreie Zeit zwischen dem Einwirken einer Noxe und dem Auftreten von ersten Beschwerden. Und während die Testversuche mit Pyrrovidon längst in Vergessenheit geraten sind, habe ich in meinem Datenmeer die Latenzzeit von Pyrrovidon entdeckt: Sie liegt bei etwa 28 Jahren, die Mortalitätsrate bei geschätzten 82 Prozent. Von den 30 Probanden, die 1989 über mehrere Monate Pyrrovidon eingenommen haben, leben heute noch vier. Zwei starben im Laufe der Jahre höchstwahrscheinlich aus anderen Gründen, von den 28 verbleibenden Testkandidaten zeigten 24 etwa drei Jahrzehnte nach der Einnahme von Pyrrovidon die Symptome eines Starrezustands, der bei allen Kanidaten unabhängig als „Stupor“ mit unbekannter Ursache diagnostiziert wurde und bei 23 zum Tode führte.
Natürlich ist meine Datenbasis nicht repräsentativ, eigentlich müssten nun weiterführende Versuche durchgeführt werden. Doch der Zusatzstoff ist Anfang der 1990er Jahre in Deutschland und kurze Zeit später auch auf vielen internationalen Märkten zugelassen worden. Laut meinen Daten müssten über 85 Prozent der Menschen auf der nördlichen Hemisphäre seitdem ähnliche oder größere Mengen des Zusatzstoffes eingenommen haben als die Testkandidaten.
Wenn meine Analysen stimmen, ist es wahrscheinlich, dass in wenigen Jahren ein Großteil der Weltbevölkerung in Starre verfällt und sterben wird. Das Wichtigste geben meine Daten allerdings nicht her: Namen. Ich habe keine Ahnung, wer betroffen ist, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich selbst betroffen bin. Wer weiß schon mit Sicherheit, ob oder geschweige denn wann man innerhalb der vergangenen fast 30 Jahren diesen einen Zusatzstoff zu sich genommen hat, der in verschiedensten Produkten, unter anderem sogar in Lebensmitteln enthalten ist.
Nach dieser Erkenntnis kam die Panik. Wir werden alle sterben. Aber wann und wie? Muss ich die Menschheit warnen oder kann man das Ganze abwenden? Ich habe meine Forschungen öffentlich gemacht, aber natürlich hat kaum jemand die Analyse der Daten ernst genommen. Ich habe mit Wissenschaftlern, Ärzten und Chemikern gesprochen, aber niemand konnte bestätigen oder widerlegen, was ich herausgefunden habe. Dieses „Phänomen“ zu untersuchen, Ursachen und vielleicht ein Gegenmittel zu finden würde Jahrzehnte dauern. Zeit, die wir nicht haben. Ich gehe davon aus, dass mindestens drei Viertel der Weltbevölkerung betroffen ist und schon innerhalb des nächsten Jahres erste Symptome massenhaft auftreten werden.
Auch das verbleibende Viertel der Bevölkerung wird die Auswirkungen zu spüren bekommen. Denn all die Reportagen darüber, wie eine Welt ohne Menschen aussehen würde sind nichts weiter als romantische Endzeit-Fantasien, die mit der auf uns zukommenden Wirklichkeit wenig zu tun haben. Es wird nicht dazu kommen, dass Rosen das Schloss überwuchern und sich die Natur den Lebensraum zurückerobert oder Tiere durch verlassene Städte streifen, wie wir es in Märchen gelesen oder in Filmen gesehen haben. Zu sehr haben wir Menschen unsere Spuren hinterlassen und die Welt auf eine Weise verändert, die sich auf die nächsten Jahrtausende auswirken wird.
Weltweit gibt es etwa 440 Kernreaktoren in über 30 verschiedenen Ländern. Jeder Reaktorkern muss ständig überwacht und gekühlt werden. Das Abschalten und der Rückbau dieser Anlagen ist ein Prozess, der Jahrzehnte lange Arbeit und Planungen erfordert. Ein Viertel der Menschheit kann dies nicht leisten. Ich bin mir sicher, dass all diese Reaktorkerne schmelzen werden, wenn es keine Menschen mehr gibt, die sich darum kümmern.
Meine Computersimulation hat berechnet, wo die Überlebenschancen in einer erstarrten und radioaktiv verseuchten Welt am besten stehen. In der südlichen Hemisphäre gibt es nur wenige aktive Kernreaktoren, in Australien beispielsweise überhaupt keine großen Anlagen, die der Energieproduktion dienen. Ein dort in den 50er Jahren erbauter Forschungsreaktor wurde bereits 1987 außer Betrieb genommen und soll bis 2025 vollständig zurückgebaut sein, zudem gibt es zwei weitere vergleichsweise kleine Forschungsanlagen. Ein Großteil der Überlebenden wird daher Australien oder Neuseeland als erste Anlaufstelle ins Visier nehmen, bevor die Radioaktivität Europa und Amerika komplett verseucht hat. Ich befürchte, dass dort bürgerkriegsähnliche Zustände ausbrechen könnten, wenn sich binnen weniger Jahre ein Großteil der etwa zwei Milliarden Überlebenden dort einfindet, wo heute lediglich etwa 30 Millionen Menschen leben. Aus diesem Grund habe ich mir ein anderes Ziel für meinen vielleicht dennoch kurzen Lebensabend ausgesucht.
Unter den bewohnten Inseln der Welt – ich möchte keineswegs als einsamer Robinson Crusoe auf einer verlassenen Insel enden – ist Tristan da Cunha eine der abgelegensten. Sie liegt mitten im Südatlantik, etwa 3.200 Kilometer östlich von Rio de Janeiro und 2.800 Kilometer westlich von Kapstadt. Richtung Norden sind es 4.600 Kilometer bis zur Elfenbeinküste und 3.800 Kilometer weiter im Süden beginnt die Antarktis. Tristan da Cunha ist etwa 98 Quadratkilometer groß und im einzigen Ort namens Edinburgh of the Seven Seas leben weniger als 300 Einwohner.
Es wird vielleicht schon in einigen Monaten keine politischen Systeme mehr geben, keine Weltwirtschaft, keine Finanzwirtschaft, keine Stromnetze und kein Internet. Die ganze Welt wird analog und offline sein und auf der Flucht.
Ich ziehe mir Wikipedia auf meinen eReader sowie hunderte Romane und zahlreiche Sachbücher über Hochseefischen und Gemüseanbau. Ich speichere meine wichtigsten privaten Bilder und meine Lieblingsmusik auf kleinen Speicherkarten ab, besorge mir Powerbanks und Solar-Ladegeräte, dann packe ich meine Koffer. Ich habe einen kleinen Vorsprung, den werde ich nutzen. Macht’s gut und danke für den Fisch.
Links:
- Wikipedia-Artikel über Tristan da Cunha
- Informationen zur Reise nach Tristan da Cunha
- Lebensmittelinformationen zu Polyvinylpolypyrrolidon
- Informationen zum Stupor
- Weltkarte aller Atomanlagen
- Fluter Artikel zur Welt nach der Menschheit
- Brand eins Artikel Was wäre, wenn einen Monat der Strom ausfällt?
Titelbild:
NASA Terra ASTER image of Tristan da Cunha Island, South Atlantic Ocean
NASA ASTER volcano archive, Gemeinfrei