Dies ist die erste bis heute erhaltene Fotografie der Welt. Das Bild entstand 1826 und wurde von Nicéphore Nièpce im französischen Saint-Loup-de-Varennes auf eine mit Naturasphalt bestrichene Zinnplatte belichtet. Das Verfahren, das Nièpce dazu entwickelte, wird Heliografie genannt, das “Zeichnen der Sonne”.
I
Ich wartete etwas zurückgezogen im oberen Teil eines kleinen Cafés und blickte hinunter auf die verregnete Fußgängerzone der Altstadt. Wer von den vielen Leuten mochte Thiel sein? Unter all den aufgespannten Regenschirmen und tief ins Gesicht gezogenen Mützen ließen sich hinter den nassen Fensterscheiben nur wenige Personen ausmachen, die in Frage kamen. Ich suchte damals nach einem Wissenschaftler, doch was ich fand war ein Mann mit einer Geschichte. Nein, mehr als eine Geschichte, eine Entdeckung. Und genau genommen fand er mich, nicht ich ihn. Er stand einfach neben mir, als ich in Gedanken verloren noch immer aus dem Fenster starrte. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, er streckte mir aus seinem nassen Mantel die Hand entgegen.
„Thiel“, sagte er nur.
Ich hatte im Netz nach ihm recherchiert und ihn als Albrecht Thiel auf der Seite der Mitarbeiter eines universitätsnahen Instituts gefunden. Er war dort als leitender Softwareentwickler tätig.
Seine erste Mail war kurz und ließ nicht erahnen, worum es gehen sollte. Er habe einen Auftrag für mich und würde mich gerne persönlich treffen. Soweit war das nichts Ungewöhnliches, ich war als freiberuflicher Journalist und Texter tätig und arbeitete für verschiedene Kunden: kleinere Agenturen und Verlage, manchmal auch Werbe- und Pressetexte direkt für Unternehmen. Nebenbei schrieb ich einen eigenen Literaturblog, der jedoch nur wenig Beachtung fand. Zunächst dachte ich an ein Lektorat von wissenschaftlichen Artikeln oder an eine private Biografie, doch im Anhang schickte er einen Vertrag mit einer Stillschweigeverpflichtung. Ich sollte mit niemandem über diese Angelegenheit reden und durfte ohne sein ausdrückliches Einverständnis nichts veröffentlichen. Das machte mich neugierig. Und so saß ich drei Tage nach der ersten E-Mail mit dem unterzeichneten Vertrag in der nassen Tasche neben mir im Café.
Thiel war ein ruhiger, kleiner Mann in den 40ern. Schmächtig, aber keineswegs untrainiert, unrasiert, aber nicht ungepflegt. Er blickte mich aufmerksam durch eine große Brille an. Ich schüttelte die Hand, die er mir noch immer entgegen streckte, und stand zur Begrüßung auf.
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Im Gegensatz zu so manch anderen Kunden war das nicht gelogen. Es war mir von der ersten Mail an irgendwie klar, dass dies kein gewöhnlicher Auftrag werden würde und ich war ausnahmsweise keine Sekunde lang skeptisch gewesen, dass das Thema Geld in den Mails noch nicht angesprochen wurde.
Er zog seine Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und setzte sich. Wir bestellten Kaffee und ich schob ihm den Vertrag über den Tisch. Er blätterte ihn kurz durch und nickte. Dann konnte ich meine Neugierde nicht mehr bändigen.
„Um was genau geht es hier eigentlich? Eine Erfindung?”
„Ja und Nein. Im Kern geht es eher um etwas Anderes.”
Er machte eine Pause.
„Sie sind Wissenschaftler?”
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe Mathematik und Informatik studiert und arbeite als Softwareentwickler. Aber darum geht es eigentlich auch nicht”, eine weitere kurze Pause, „oder nur am Rande.”
„Also gut. Warum ich?”
„Sie stellen viele Fragen.”
„Ich dachte, deswegen bin ich hier?”
„Und ich dachte, Journalisten hören in erster Linie zu.”
Er lächelte mich an, dann wurde der Kaffee gebracht. Meiner schwarz, seiner mit aufgeschäumter Milch. Ich schwieg.
„Ich habe ein paar Ihrer Artikel gelesen und daraufhin Ihren Blog gefunden. Sie sind sehr kritisch, haben einige Werke meiner Lieblingsautoren zerrissen und das vielleicht gar nicht mal zu Unrecht.“
“Warum fragen Sie nicht einen Kollegen, jemanden der sich mit der Materie auskennt? Oder einen Anwalt oder Berater?”
„Mein Auftrag” – er betonte das Wort wie jemand, der üblicherweise keine Aufträge vergibt – „ist etwas ungewöhnlich. Ich brauche keinen Anwalt und niemanden vom Fach. Ich brauche eher eine kritische Meinung. Jemanden, der mir ein Hirngespinst austreibt. Aber ich schätze früher oder später ist es sicherlich auch etwas, worüber geschrieben wird. Außerdem gibt es einiges zu recherchieren.”
Er zog den Vertrag zu sich hinüber und klopfte mit der Hand darauf.
„Ich habe Ihr Wort darauf, dass das hier unter uns bleibt?”
„Ehrenwort. Sie haben es da ja auch schriftlich.”
Er steckte den Vertrag in seinen Rucksack, der mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war.
„Geht es um Geld, oder warum dieser Vertrag?”
„Nein, mir geht es eigentlich nicht um Geld. Mir ist natürlich klar, dass Sie in gewisser Weise wegen des Geldes hier sind – auch wenn ich hoffe, dass das für Sie zweitrangig ist.“
„Dazu müsste ich wissen, worum es geht.”
„Es wird etwas dauern, bis Sie wirklich wissen, worum es geht. Aber Sie haben mein Wort, dass es sich für Sie lohnen wird.“
Er machte eine kurze Pause in der ich überlegte, wie er es schaffte, das wie ein seriöses Angebot klingen zu lassen.
„Wie wäre es damit, Sie haben die Wahl: Entweder wir machen einen festen Stundensatz aus, den Sie abrechnen können oder Sie bekommen alle Erlöse, die durch Ihre Texte erzielt werden.“
„Also gut”, sagte ich kurzentschlossen. “Wenn ich dabei bleibe, behalte ich alle Rechte an meiner Arbeit“, antwortete ich ihm.
„Sie werden dabei bleiben”, sagte er und streckte mir erneut die Hand entgegen. Ich schlug ein.

Bei der Gesichtserkennung ist zu unterscheiden zwischen der Ortung von Gesichtern innerhalb eines Bildes und der Zuordnung des Gesichts zu einer konkreten Person. Der erste Fall wird beispielsweise von modernen Digitalkameras genutzt, um den Fokus im Bild automatisch auf die abgebildeten Personen zu richten. Bei der Erkennung, um wessen Gesicht es sich auf einem Bild handelt, unterscheidet man üblicherweise die Erkennung durch einen Menschen (im englischen Sprachraum als “face perception” bezeichnet) von der Gesichtserkennung durch Maschinen (“face recognition”).
II
Genau diesen Unterschied aufzuheben war die Aufgabe von Thiel an seinem Institut. Er arbeitete an einem Computerprogramm zur Face Perception. Sein Programm sollte die Gesichtserkennung des Menschen nachahmen: In der Regel gelingt es uns Menschen, Gesichter auch nach vielen Jahren wiederzuerkennen, selbst wenn sich die Person inzwischen sehr verändert hat. Erschwert wird uns Menschen diese Gedächtnisleistung durch den Faktor des Vergessens. Doch auch wenn wir über die Jahre hinweg nahezu vergessen haben, wie jemand früher ausgesehen hat, erkennen wir die Person nach einigen Momenten des Überlegens oftmals wieder.
Bei Computerprogrammen verhält es sich genau umgekehrt. Sie können das Bild einer Person über Jahrzehnte hinweg ohne Verluste durch Vergessen abspeichern. Sie vergleichen Gesichter allerdings anhand von bestimmten Parametern, die das Programm vorgibt: Der Abstand der Augen oder die Proportionen von Mund, Nase und Ohren. Deswegen können Computerprogramme besser als wir Menschen damit umgehen, wenn sich jemand verkleidet, eine Brille trägt oder sich einen Bart wachsen lässt, denn Verkleidungen können die Parameter nicht verändern, die die Maschinen vergleichen.
Allerdings verändern sich diese Parameter im Laufe des Lebens und deshalb gelingt Maschinen der Vergleich eines alten Kinderfotos mit einem Abbild der Person als Erwachsenen in der Regel nicht.
„Kennen Sie den hier?“
„Woher haben sie denn das?“, fragte ich mehr als verwundert. Es war ein Bild von einer Klassenfahrt, mehr als 20 Jahre alt. Vier Jugendliche auf einem alten Sofa in einer Jugendherberge. Ich sah ziemlich verkatert aus, der zweite von links. Die anderen drei waren Klassenkameraden, die ich mittlerweile längst aus den Augen verloren hatte.
„Und erkennen Sie hier jemanden?“ Er legte ein zweites Bild daneben, es war dem anderen recht ähnlich. Drei Jugendliche saßen an einem Tisch und spielten Karten. Scheinbar ebenfalls in einer Jugendherberge oder einem Jugendzentrum aufgenommen.
Die Fotografie war etwas älter als das Bild von meinen Klassenkameraden und mir, man konnte das leicht an der Kleidung der Jungs und an der Einrichtung des Zimmers ausmachen. Auf diesem Foto kannte ich aber niemanden. Ich schaute fragend zu Thiel auf und dann nochmal auf das Bild.
„In der Mitte mit dem breiten Grinsen, das sind Sie?“
„Ich war gut mit den Karten, hatte aber ein mieses Pokerface.“
„In der Tat“, grinste ich. „Also, woher haben Sie das Bild von mir?“
Thiel erzählte mir von seiner Arbeit am Institut und von seinem Programm zur Gesichtserkennung. Er hatte ein halbwegs aktuelles Foto von mir im Netz gefunden und seine Software damit gefüttert. Diese durchsuchte das Internet nach weiteren Bildern von mir, aktuelle ebenso wie alte Fotos aus meiner Kindheit und Jugend. Natürlich hatte er das Bild, das nun vor mir lag, auf Facebook gefunden. Allerdings wurden auf der Seite keine Namen genannt und keine Personen gekennzeichnet oder verlinkt. Deshalb wäre ich wohl nie auf das Foto aufmerksam geworden.
„Und Sie können das quasi mit jedem machen?“
„Im Prinzip schon. Allerdings gibt es von unserer Generation noch relativ wenig Kinderfotos im Netz.“
Ich dachte an einige Bekannte, die täglich Fotos ihrer Kinder über Facebook teilten, als Thiel ein altes Zeitungsfoto zu den anderen beiden Bildern auf den Tisch legte. Ich erkannte es gleich wieder. Dieses Bild hatte ich vor über 30 Jahren selber aus einer Zeitung ausgeschnitten und in unser Familienalbum geklebt.
„Sie haben mit fünf den dritten Platz beim Luftballonwettbewerb gewonnen.“
„169 Kilometer weit“, grinste ich.
„Dies und ein Foto von Ihrer Einschulung, auch aus der Zeitung. Viel mehr habe ich nicht gefunden, auf allen anderen Bildern waren Sie schon ein Teenager.“
„Ich weiß nicht, ob ich das erschreckend oder faszinierend finden soll.“
„Es ist noch mehr als beides“, sagte er mir ernst, doch Genaueres sollte ich an diesem Tag noch nicht erfahren. Er musste noch ein paar Dinge klären, bevor er mich weiter in sein Geheimnis einweihen wollte.

1888 entwickelte der amerikanische Erfinder George Eastman den Rollfilm. Mit der ein Jahr später erschienenen „Kodak Nr.1“ war es erstmals möglich, mit einem kleinen kompakten Apparat gleich mehrere Fotografien hintereinander zu erstellen. Seine Kunden konnten den Film in ihrer Kodak Nr.1 voll knipsen und dann die komplette Kamera samt Film per Post an Eastman schicken. Im Auftrag seiner Kunden entwickelte er den Film aus der Kamera, bot ihnen Abzüge der Bilder an und sendete die mit einer neuen Filmrolle bestückte Kamera zurück.
Etwa 100 Jahre nachdem Nicéphore Nièpce sein erstes Foto aufnahm kam 1925 die von Oskar Barnack entwickelte „Leica 1“ auf den Markt: Die erste in Großserie gefertigte Kleinbildkamera, die einen 35mm Film verwendete.
III
Natürlich wollte ich seine Software testen. Eine Woche nach unserem ersten Treffen hatte ich meine alten Fotoalben aus dem Keller geholt und das Internet nach Bildern von mehr und auch weniger berühmten Personen durchforstet. Dann verbrachte ich einen ganzen Tag in der Bibliothek. Ich durchstöberte alte Bildbände, insbesondere aus den ersten 70 Jahren des letzten Jahrhunderts. Ich suchte speziell nach Fotografien, die ihren Weg noch nicht ins Internet gefunden hatten und scannte viele Bilder ein, auf denen Gesichter gut zu erkennen waren. Je länger ich suchte, desto mehr konzentrierte ich mich auf die „Besucher“: Nebendarsteller, Personen, die mehr oder weniger zufällig auf den Fotos abgelichtet wurden und dennoch scharf und groß genug zu erkennen waren. Könnte ich mit Hilfe von Thiels Software herausfinden, wer diese Personen waren und was aus ihnen geworden ist? Ob sie noch auf anderen Fotos zu finden waren? Im Zeitalter der digitalen Fotografie kann man sich kaum davor verwahren, abgelichtet zu werden. Führerschein, Personalausweis, Bahncard oder Krankenkassenkarte – alles nur noch mit Bild. Ohnehin hatte jeder überall dank Smartphone eine hochauflösende Kamera dabei, ganz zu schweigen von den unzähligen Überwachungskameras. Selbst wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht freiwillig auf Selfies ablichten würde – unfotografiert blieben wohl nur Menschen, die kaum Kontakt zur Außenwelt hatten. In der Regel war das ja auch nicht weiter tragisch. Niemand außer Thiel hätte jemals diese Kinderfotos von mir gefunden – zumindest nicht jemand, der gezielt nach mir suchte.
Auf wie vielen Fotos war ich wohl zufällig abgelichtet, weil ich unvermittelt ins Bild gelaufen war oder ganz unbeteiligt im Hintergrund herum stand? Sicherlich war auch ich ein Besucher auf fremden Bildern, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte.
Und wie viele meiner Freunde, die sich zum großen Teil noch immer den Sozialen Netzwerken verweigerten, waren dennoch auf Fotos, die dort hochgeladen und geteilt wurden? Solange ihre Namen nicht auftauchten, war ich selber ehrlich gesagt wenig besorgt, wer auf den Fotos zu sehen war, die ich mehr oder weniger öffentlich mit meinen Freunden geteilt hatte. Nun brauchte man keine Namen mehr. Jeder Nutzer von Thiels Software sollte alle Fotos finden können, die jemals jemand von einer Person gemacht und öffentlich ins Internet gestellt hat.

Das „Facebook Artificial Intelligence Research Lab“ (FAIR) arbeitet daran, eine eigene Intelligenz für das weltweit größte soziale Netzwerk zu entwickeln. Eines der zahlreichen Projekte, an dem die Wissenschaftler forschen, ist ein intelligenter Assistent, der die Kommunikation zwischen den Nutzern analysiert und unterstützt. Das Programm soll beispielsweise auf den von Nutzern hochgeladenen Fotos erkennen können, ob die abgelichteten Personen alkoholisiert sind. Der intelligente Assistent könnte diese Bilder automatisch der Öffentlichkeit vorenthalten und eine Gewissensinstanz für jene Nutzer darstellen, die im Augenblick des Uploads ihrem eigenen Gewissen nicht recht trauen können.
IV
Zwölf Tage nach unserem ersten Treffen wartete ich wieder in dem Café auf Thiel. Ich hatte meine Bildersammlung dabei. Ein ganzes Wochenende hatte ich mehr oder weniger damit verbracht, alte Fotos mit einem Scanner zu digitalisieren, den ich extra zu diesem Zweck gekauft hatte. Doch nicht nur öffentliche Bilder aus der Bibliothek waren dabei, auch viele private Bilder aus meiner eigenen Sammlung: Fotos von Freunden und Verwandten, von Schulfreizeiten und Familienfeiern. Ich war unschlüssig, ob es verwerflich war, auf diese Weise herauszufinden, wie meine erste Freundin heute aussehen mochte oder was mein alter Schulkumpel machte, der nach der Grundschule weggezogen war. Im Netz hatte ich auch früher schon nach beiden gesucht, aber kaum etwas über sie herausgefunden. Sollte sich das nun ändern?
Diesmal begrüßte mich Thiel nicht mit Handschlag, sondern setzte sich einfach zu mir an den Tisch.
„Hallo, wie geht’s Ihnen?“
„Gut, danke. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich neugierig geworden.“
„Das freut mich. Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht.“
Er legte erneut einige Fotos auf den Tisch. Es waren eine Handvoll Abzüge von Bildern, scheinbar aus dem Internet. Ich kannte zwar die Personen darauf nicht, aber ich kannte alle Orte, an denen die Bilder aufgenommen wurden. Und dann entdeckte ich mich auf den Bildern. Es waren tatsächlich Besucherbilder von mir. Im Vordergrund standen meist Pärchen oder einzelne Personen – im Hintergrund stand ich: Am Strand in Spanien, in einer großen Menschenmenge auf einem Basar in Tunesien, auf einer Autobahnraststätte irgendwo im Niemandsland und in der Fußgängerzone nur knapp 500 Meter weit entfernt von dem Café, in dem wir gerade saßen. Es waren Bilder etwa aus den letzten 15 Jahren.
„Ich hatte mich schon gefragt, ob so etwas funktionieren würde.“
„Ja, es ist wirklich verwunderlich, was es alles frei zugänglich im Netz gibt.“
„Ist das alles, was Sie von mir gefunden haben?“
“Das sind alle Ergebnisse der Kategorie zwei. Ich nenne sie insgeheim auch die ‘das ist doch!’-Kategorie”.
Mein Blick machte eine Rückfrage unnötig.
„Wie gesagt, das Programm funktioniert eigentlich nicht wie eine Maschine, sondern eher wie ein menschliches Gehirn. Es vergleicht keine Merkmale wie andere Software zur Gesichtserkennung und es gibt daher auch keine prozentuale Übereinstimmung aus. Stattdessen spielen andere Faktoren eine Rolle, ähnlich wie bei uns Menschen. Je besser man eine Person kennt, desto eher erkennt man sie wieder. Ihre Freundin oder ihren Vater würden Sie vielleicht sogar als Schattenriss erkennen. Wenn Sie mich hingegen da unten in der Fußgängerzone sehen, müssen Sie wahrscheinlich erst zwei Mal hinschauen, bevor Sie sich sicher sind. Es geht also hauptsächlich um zwei Faktoren: Wie genau kennt man eine Person, und wie viele Informationen stehen zur Wiedererkennung zur Verfügung. Das bedeutet: Je mehr Daten zur Verfügung stehen und je besser das Programm trainiert ist, desto mehr kann es erkennen.”
Der Kaffee wurde gebracht und Thiel fuhr mit seiner Erläuterung fort:
“Helios hat die Anweisung, die Ergebnisse in fünf Kategorien einzuteilen, ähnlich wie das auch Menschen tun:
Kategorie Eins, man ist sich völlig sicher: ‘Das ist Herr Meier!’. Aus dieser Kategorie stammen die Bilder, die ich bei unserem letzten Treffen dabei hatte.
Kategorie Zwei, leichte Zweifel: ‘Das ist doch Herr Meier?’. In der Regel stehen hier nicht ausreichend Informationen zur Verfügung, beispielsweise weil die Person zu weit weg ist oder man sie nur flüchtig kennt. Das sind zum Beispiel diese Bilder, auf denen Sie abgeschnitten sind oder hinter anderen Menschen stehen.
Kategorie Drei, größere Zweifel: ‘Ist das nicht Herr Meier?’ Hier kämen auch Personen in Frage, die Ihnen ähnlich sehen. Geschwister oder Eltern zum Beispiel.
Kategorie Vier, wahrscheinlich keine Übereinstimmung, aber große Ähnlichkeit: ‘Der sieht aus wie Herr Meier.’
In Kategorie Fünf schließlich besteht keine Ähnlichkeit mehr.”
Ich nahm die Bilder, die er mitgebracht hatte noch einmal in die Hand und sah sie durch. Bei dem Bild aus Tunesien stockte ich. Ich stand im Hintergrund mitten im Getümmel, mein Gesicht war auf dem Abzug nur wenige Millimeter groß und teilweise verdeckt. Ich fiel auf, weil ich größer und hellhäutiger war als die meisten anderen Personen, doch ich bezweifelte, dass Freunde oder Verwandte mich auf dem Bild erkannt hätten.
“Meine Eltern würden mich auf diesem Bild erkennen, wenn ich es ihnen in die Hand drücke, aber wenn sie das einfach irgendwo im Internet, oder in einer Zeitschrift sehen würden, kämen sie nie auf die Idee, dass ich das bin, selbst wenn sie es sich genau anschauen.”
“Das mag sein. Zum einen werden die verfügbaren Kontextdaten im Internet immer mehr und immer genauer. Helios könnte schon heute die Information haben, wann und wo das Bild aufgenommen wurde und wer zu dieser Zeit vor Ort war, genau wie Ihre Eltern. Das würde die Sache natürlich noch einfacher machen. Das Bild ist aber schon einige Jahre alt. Damals war das mit der Standortbestimmung noch nicht so einfach wie heute. Andersrum geht es uns in erster Linie nicht um die Kontextdaten, sondern um die Gesichtserkennung.”
“Helios ist das Programm?”
“Mehr eine künstliche Intelligenz als ein einfaches Programm.”
“Und es kann mich besser erkennen als meine Eltern?”
“In gewisser Hinsicht ja. Selbstverständlich sind Ihre Eltern die Experten darin, Sie zu erkennen, schließlich kennt niemand Sie so genau wie Ihre Eltern. Helios ist ein selbstadaptiver Algorithmus. Es trainiert sich quasi selber und hat inzwischen Milliarden von Gesichtern und deren Entwicklung analysiert und dabei immer dazugelernt. Deshalb sind wir der Ansicht, dass Helios inzwischen besser funktioniert, als die Gesichtserkennung eines normalen Menschen. Zudem kann es seine Ergebnisse der Gesichtserkennung mit den üblichen digitalen Verfahren der Gesichtserkennung oder in geringem Ausmaß auch mit einer kontextbasierten Suche kombinieren. Damit ist Helios also besser als ihre Eltern und herkömmliche Internetrecherchen zusammen. ”
“Kann ich das mal ausprobieren?”
Ich hatte in den vergangenen Tagen natürlich überlegt, wer der beste Kandidat für eine erste Suche sein konnte. Nichts Privates, das hatte ich mir vorgenommen, denn das würde vielleicht einen falschen Eindruck vermitteln. Es sollte eine Person sein, von der es viel Material zu finden gab und gleichzeitig eine Herausforderung an die Software. Eine bekannte Person, die sich im Laufe der Zeit stark verändert hat.
Ich gab mir Mühe, Thiels Gesichtsausdruck sorgfältig und unauffällig zu studieren, während ich in seinem Programm eine erste Bilddatei öffnete. Es handelte sich um eine Fotografie des jungen Michael Jackson aus den späten 60er Jahren. Thiel ließ sich keine Regung anmerken. Das Programm schlug mir umgehend viele weitere Bilder sowie Videosequenzen vor, die alle eindeutig Michael Jackson zeigten. Gleich die ersten Ergebnisse zeigten den Popstar interessanterweise in sehr unterschiedlichem Alter und Gesundheitszustand: Zwei Bilder und ein Video aus dem Kindes- oder Jugendalter mit den Jackson Five, zwei Bilder des erwachsenen Jackson, irgendwann zwischen “Thriller” und “Bad”, einige Nahaufnahmen des als Zombie verkleideten Popstars und ein Bild auf dem er schon fast 50 gewesen sein musste, krank und abgemagert wirkte und eine tiefschwarze Sonnenbrille trug, erschienen auf dem Bildschirm.
“Wenn hier falsche Bilder dabei wären, sollten Sie diese aussortieren, dann lernt das Programm die Person besser kennen. Sie könnten auch Textinformationen angeben, wie den Namen oder das Geburtsdatum.”
Ich scrollte die Bilder durch, immer mehr richtige Ergebnisse erschienen auf dem Display.
“Wenn Sie eine Standard-Gesichtserkennung zuschalten, dann werden die Bilder auch anhand von biometrischen Daten gesucht, wie man es von herkömmlicher Software kennt. Außerdem kann Helios Bilder über den Kontext finden, in denen das Foto steht.”
Thiel zeigte mir die entsprechenden Schaltflächen, die ich aktivierte. Nun wusste das Programm auch ohne meine Angabe, wer der Mann auf den Bildern war, und zeigte mir neben weiteren Bildern die Informationen von Wikipedia über Michael Jackson an.
“Bei den ersten Ergebnissen ist der Unterschied der Suchmethoden gar nicht so groß”, erläuterte mir Thiel. “Vor allem nicht, wenn es sich um bekannte Persönlichkeiten handelt. Diese Bilder sind vielfach im Netz zu finden und stehen oft im korrekten Kontext. Da ist das Ergebnis von textbasierten Suchen, biometrischen Suchen und von Helios sehr ähnlich. Zum Glück, denn hier liefern die bekannten Suchmethoden meist sehr sichere Ergebnisse.”
“Das heißt ich hätte auch Michael Jackson bei Google eingeben und auf Bildersuche klicken können?”
“Nicht ganz. Sie können hier die Unterschiede herausfiltern, indem Sie die Suchergebnisse voneinander subtrahieren”. Er öffnete ein weiteres Fenster, das sich hinter einer Schaltfläche verborgen hatte. “Das hier sind die Ergebnisse der Bildersuche, wenn Sie den Namen ‘Michael Jackson’ eingeben”. Eine Liste zahlreicher Bilder erschien, die zunehmend länger wurde. “Das ist quasi wie die Google Bildersuche. Wenn sie davon die Bilder abziehen, die auch Helios herausgesucht hat, dann bleiben folgende Bilder über”. Das Programm filterte zielsicher die “echten” Bilder von Michael Jackson heraus, es blieben ausschließlich Zeichnungen, Karikaturen oder Fotos von Imitatoren des Popstars übrig.
“Wie Sie sehen, ist Michael Jackson ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten von Helios, nicht nur, weil er im Laufe seines Lebens quasi eine Metamorphose vollzogen hat, sondern auch, weil es viele Doppelgänger von ihm gibt. Eine Text- oder kontextbasierte Suche liefert wegen der Doppelgänger und Zeichnungen zu viele Ergebnisse, eine biometrische Gesichtserkennung hingegen zu wenige, weil sie den jungen, lockigen und dunkelhäutigen Jackson nicht in Einklang mit dem erwachsenen Popstar bringen kann. Durch das natürliche Wachstum und die vermeintlichen Operationen oder Krankheiten haben sich seine Merkmale zu sehr verändert. Es zeigt sich aber auch, dass die face perception von Helios besser ist als die vieler Menschen. Wer würde den erwachsenen Michael Jackson anhand eines Kinderfotos wiedererkennen, wenn er kein Star wäre, dessen Lebensgeschichte man kennt?”
Das Programm erkannte zudem das Alter und die Entwicklung von Michael Jackson auf den Bildern. Mit ein paar weiteren Klicks konnte ich die Fotos chronologisch sortieren. Die Liste begann mit ein paar wenigen Bildern des Kleinkindes, gefolgt von hunderten von Aufnahmen zu Zeiten der Jackson Five.

Im Jahre 1969 entwickelten die beiden Physiker Willard Boyle und George E. Smith an den Bell Labs das erste „Charge-coupled Device“ (CCD): Ein elektronisches Bauelement, das Licht in elektrische Energie umwandeln kann. Ursprünglich für die Datenspeicherung entworfen, stellte sich schnell heraus, dass man mit solchen Bauteilen zweidimensionale Bilder erfassen kann.
1973 wurden die ersten kommerziellen CCD-Sensoren mit einer Auflösung von 100×100 Bildpunkten produziert. Zwei Jahre später fand ein solcher Sensor in der „portable all electronic still camera“ von Kodak Verwendung. Der von Steve J. Sasson entwickelte Prototyp zeichnete die Bilder auf eine Magnetbandkassette auf und gilt damit als erster funktionierender Vorläufer der Digitalkamera.
Als erste echte Digitalkamera, dessen Bilder direkt auf einen Computer übertragen werden konnten, wird das „Model 3/4“ von Dycam angesehen, das 1991 auf der CeBIT vorgestellt wurde und schwarz-weiß Bilder mit einer Auflösung von 376×284 Pixeln aufzeichnen konnte.
V
Thiel stellte mir sein Programm samt Notebook zur Verfügung und ich experimentierte einige Tage mit seiner Suchmaschine herum. Anfangs hatte ich ihn noch mit Fragen zur Bedienung des Programms bombardiert, doch inzwischen hatte ich das Programm im Griff und schließlich war meine erste Begeisterung abgeklungen. Ich hatte in der Tat einige meiner Schulfreunde anhand alter Fotografien im Netz wiedergefunden, selbst wenn sie ihren richtigen Namen nicht verwendeten. Allerdings war das weit weniger spannend als ich erwartet hatte. Gleiches galt für die Suche nach “Besuchern”: Die Suchmaschine lieferte auch hier tadellose Ergebnisse, aber keine aufregenden Geschichten.
Keine Frage, Thiel hatte mit seinem Programm ganze Arbeit geleistet. Mit seiner Suchmaschine konnte man zielsicher eine Personen finden, von der man nur ein altes Foto hatte. Oftmals war es dann ein Leichtes, weitere Informationen herauszubekommen und Helios würde so manches Alibi auffliegen lassen. Seine Suchmaschine war sicherlich ein wertvolles Recherche-Werkzeug, aber rechtfertigte es diese Geheimnistuerei?
Ich experimentierte immer weniger mit der Software und grübelte stattdessen mehr über meine Rolle in diesem Projekt nach, als Thiel mich überraschend anrief. Er lud mich ein, in seinem Institut vorbeizukommen. Inzwischen noch skeptischer stand ich am nächsten Tag vor dem Institut und klingelte. Es war später Nachmittag und scheinbar niemand mehr da, doch nach kurzer Zeit öffnete Thiel mir die Tür.
“Schön, dass Sie es einrichten konnten. Wie sind Sie mit der Software klar gekommen?”
“Insgesamt ganz gut, Sie haben ganze Arbeit geleistet!”
Er bat mich herein und führte mich durch die Flure des Instituts.
“Das freut mich. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Irgendwelche Bugs gefunden?”
“Bugs? Nein, sind mir nicht aufgefallen. Ich habe aber ehrlich gesagt auch nicht danach gesucht.”
Mich überraschte diese Frage. Tatsächlich waren mir während meiner Arbeit mit dem Programm keine Fehler aufgefallen. Lediglich bei den Suchergebnissen gab es einmal eine Ausnahme, die nicht passte: Ich hatte die Maschine mit einem Foto gefüttert, das eine Freundin vor kurzem von ihrem nur wenige Wochen alten Baby geschickt hatte. Erstaunlicherweise fand die Software selbst von dem Neugeborenen einige weitere Bilder im Netz, die der stolze Vater gepostet hatte. Unter den Ergebnissen war jedoch auch ein altes Bild, das eine erwachsene Frau zeigte, die als Näherin in einer Fabrik arbeitete. Allem Anschein nach war das Foto noch mit einer Plattenkamera irgendwann um die Jahrhundertwende aufgenommen worden. Ich hatte mich zunächst gewundert, weil es der einzige offensichtliche Fehler war, den die Software ausgespuckt hatte. Andererseits war ja auch nicht zu erwarten, dass die Suchmaschine ausschließlich richtige Ergebnisse lieferte. Thiel schien sich jedoch sehr für diesen Fall zu interessieren, als ich ihm davon berichtete.
“Das klingt in der Tat nach einem Fall der Kategorie Null, den wir noch nicht entdeckt haben.”
“Kategorie Null?”, fragte ich. “Sind das die falschen Ergebnisse?”
“Das sind die Fälle, die Helios für richtig, aber wir Menschen für falsch halten. Aber was ist richtig, und was ist falsch, und wer entscheidet das? Wenn Sie online nach einer Espressomaschine suchen, dann können Sie alles finden, vom einfachen Espressokocher für die Herdplatte bis zur Cimbali für mehrere Tausend Euro. Sie können konkrete Angebote finden, Testberichte oder auch Geschichten, Bilder und Videos von nagelneuen oder uralten Espressomaschinen. Das alles wären passende Ergebnisse. Aber sie sollten keine Inhalte über Waschmaschinen finden, das wäre falsch. Bei der Software liegt der Fall etwas anders, sie soll ja nicht Menschen allgemein, sondern Individuen erkennen und unterscheiden. Es ist nicht immer eindeutig, wen ein Bild zeigt. Genau so, wie man nicht immer auf Anhieb sagen kann, ob das da hinten Herr Meier ist. Deshalb haben wir die Ergebnisse in die fünf Kategorien unterteilt. Helios ist in der Regel so eingestellt, dass es nur Ergebnisse der ersten Kategorie ausgibt, also sichere Treffer. Kategorie zwei ist ganz spannend, wie Sie selbst bemerkt haben, aber wir wollten uns erstmal nur auf die sicheren Treffer konzentrieren.”
Inzwischen waren wir in einem kleinen Büro im Souterrain des Instituts angekommen. Thiel wies mich auf einen Stuhl hin und setzte sich selber hinter einen alten Schreibtisch, auf dem zahlreiche Stapel mit Akten und Papieren lagen.
“Allerdings sind dabei immer wieder Fälle aufgetaucht, die ganz offensichtlich nicht passen konnten, genau wie Ihr Fall.”
“Zugegeben, ich habe mich etwas gewundert, dass das Bild so gar nicht passte, aber ich hatte andererseits auch nicht erwartet, dass eine Suchmaschine nur richtige Ergebnisse auswirft.”
“Helios ist im eigentlichen Sinne keine Suchmaschine. Wie ich schon sagte: Es ist eine künstliche Intelligenz, die Menschen erkennen soll, wie ansonsten nur Menschen Menschen erkennen. Sie haben mich eben an der Tür wiedererkannt, genau wie gestern am Telefon oder vor einigen Tagen im Café. Hätte ich einen Zwillingsbruder, hätten wir sie vielleicht kurz täuschen können. Aber wenn Ihnen eben eine ältere Dame die Tür geöffnet hätte, dann wären Sie wohl nicht auf die Idee gekommen, dass ich das bin. Sie hätten wahrscheinlich nach mir gefragt. Sie hätten vielleicht so tun können, als ob ich diese ältere Dame gewesen wäre, aber das wäre wohl sehr unwahrscheinlich. In keinem Fall aber wären Sie ohne Wenn und Aber davon überzeugt gewesen, dass ich eben diese ältere Dame bin. ”
Ich nickte und sah mich in dem Büro um. Es war mehr ein Abstellraum und schien nicht wirklich genutzt zu werden. Abgesehen von dem Schreibtisch mit den Akten deutete nur wenig darauf hin, dass hier wirklich jemand arbeitete. Die Möbel passten nicht zusammen und es gab keine persönlichen Gegenstände. Nur einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch, einen Laptop und eine Lampe, außerdem noch einen weiteren Tisch mit zwei verschiedenen Stühlen.
Thiels Argumentation war zwar nachvollziehbar, erschien mir aber gleichzeitig etwas kleinlich.
“Um ehrlich zu sein, ich habe es auch nicht so mit Gesichtern”, versuchte ich die Situation etwas aufzulockern. “Ich kann zum Beispiel Elijah Wood und Daniel Radcliffe nicht auseinanderhalten.”
“Die beiden sehen sich bestenfalls ähnlich, das ist ein Fall von Kategorie Vier. Die Software kann das problemlos einordnen. Wir haben natürlich versucht, anhand solcher Fälle das Problem zu analysieren. Eine erste Version unserer Software, die noch ohne künstliche Intelligenz arbeitete hat hier kleine Fehler gemacht, aber dafür keine so eindeutig falschen Übereinstimmungen ausgegeben. Allerdings hat sie sonst kaum nennenswerte Ergebnisse geliefert und funktionierte eher wie eine herkömmliche, maschinelle Gesichtserkennung. Das künstliche neuronale Netzwerk, das wir in dieser Version nutzen, macht inzwischen keine kleinen Fehler mehr, kann aber zwischen Kategorie Eins und Kategorie Null nicht unterscheiden.”
Er legte mir einige Bildpaare hin, die ganz offensichtlich nicht überein stimmten.
“Helios ist quasi davon überzeugt, dass diese Bilder ein und dieselbe Person zeigen. Wir haben zunächst befürchtet, dass unsere künstliche Intelligenz an Prosopagnosie, also an Gesichtsblindheit leidet. Ich habe daraufhin einen Freund mit ins Boot geholt, der Neurologe ist: Prof. Dr. Zimmermann. Zusammen haben wir eine Theorie für die Erklärung dieser Fälle entwickelt und ich möchte Sie gerne damit beauftragen, diese Theorie zu prüfen.“

Die Neurowissenschaftler Warren McCullogh und Walter Pitts entwickelten bereits 1943 ein mathematisches Modell einer Nervenzelle. Mehrere dieser sogenannten “McCulloch-Pitts-Zellen” können zu einem künstlichen neuronalen Netz verknüpft werden. Bereits 15 Jahre später konnte ein erster Neurocomputer einfache Ziffern erkennen.
Bis heute werden künstliche neuronale Netze zur Erkennung von Strukturen und zur Lösung allgemeiner Probleme eingesetzt. In dem Projekt Google DeepMind haben Forscher ein künstliches neuronales Netz um einen Kurzzeitspeicher erweitert, um die Fähigkeiten eines künstlichen Gedächtnisses zu simulieren. Dadurch kann DeepMind nicht nur Daten verarbeiten, sondern die Ergebnisse abspeichern und später darauf zurückgreifen. Diese “neuronale Turing Maschine” kann mitunter besser Zusammenhänge zwischen verschiedenen Daten und Strukturen erkennen als wir Menschen.
Das Titelbild dieses Kapitels zeigt das Foto von Nicéphore Nièpce, in das DeepMind seine Vorstellungen von bekannten Mustern hineininterpretiert hat – ein Prozess, denn Google “DeepDream” nennt.
VI
Die Abstellkammer wurde für die nächsten Tage mein Büro. Ich sollte mir die ‘Fälle der Kategorie Null’ ansehen und eigene Recherchen anstellen – eine eigene Theorie entwickeln, warum das Programm manchmal so arg daneben lag. Klar war, dass ich die künstliche Intelligenz, also die Technik, die hinter der Gesichtserkennung stand, nicht analysieren konnte. Neugierig war ich trotzdem. Thiel hatte mich durch das Institut geführt und mir einige seiner Kollegen vorgestellt. Ein eigenes Rechenzentrum gab es dort nicht. Helios lief auf einem Quantencomputer, der in den USA stand.
Prof. Dr. Zimmermann hielt sich in den ersten Tagen noch im Ausland auf, deshalb konnte ich ihn noch nicht kennenlernen. Ich befasste mich daher als erstes mit den bislang lediglich 63 bekannten Fällen der Kategorie Null. Demgegenüber standen unzählige Suchen, die allem Anschein nach ausschließlich richtige Übereinstimmungen zeigten.
Die Akten, die auf dem Schreibtisch lagen, waren die ersten 62 Fälle. Ich legte meine Entdeckung dazu und ging jeden einzelnen Fall nach und nach durch, schaute mir alle Bilder sorgfältig an und prüfte die Zusammenhänge mit Hilfe der Software erneut. Die Ergebnisse blieben die gleichen, egal anhand welcher Bilder ich die Suche startete. Ein erstes Muster war jedoch auf Anhieb zu erkennen: Alle Bildpaare bestanden aus mehreren relativ neuen Fotos auf der einen Seite und wenigen ziemlich alten Bildern andererseits. Erstere Bilder zeigten eher jüngere Menschen, letztere waren bunt gemischt. Geschlecht, Hautfarbe oder Nationalität schienen bei der Kombination aus alten und neuen Bildern keine Rolle zu spielen. Fall Sechs bestand beispielsweise aus der Kombination von fast 30 verschiedenen Bildern eines dunkelhäutigen Mädchens zwischen etwa zehn und 14 Jahren und einem einzigen alten schwarzweiß Foto eines hellhäutigen Mannes um die Vierzig, der vor einer großen Maschine stand, die wie eine antike Druckerpresse aussah.
Fall 15 zeigte lediglich zwei Bilder von einem nur wenige Wochen alten Kind, das einmal vom vermeintlichen Vater und einmal von der Mutter auf dem Arm gehalten wurde. Wegen des blauen Stramplers ging ich davon aus, dass es ein Junge war. Demgegenüber standen elf Bilder einer scheinbar herrschaftlichen Dame, die auf vergilbten, eingescannten Fotos in unterschiedlicher Begleitung und an verschiedenen Orten abgelichtet worden war: Mit der Familie vor einem Gutshof, nur mit ihrem Mann in Uniform oder allein in einem Ohrensessel in der Wohnstube.
Welche Verbindung konnte zwischen so unterschiedlichen Menschen bestehen?
Ich versuchte zu recherchieren, wer diese Menschen waren, doch insbesondere bei den alten Bildern war das gar nicht so einfach.
Es wurde schnell klar, dass keine verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Personen bestehen konnte, zu unterschiedlich waren beispielsweise die Hautfarbe und Herkunft. Dennoch begann ich damit, die Personen auf den alten Fotos als “Vorfahren” und die Personen auf den neuen Bildern als “Nachkommen” zu bezeichnen. Von acht der 63 Vorfahren auf den alten Bildern konnte ich einen Namen herausfinden, von dreien konnte ich zudem den Beruf und den damaligen Wohnort ermitteln. Bei den Nachkommen war das Herausfinden von Name und Wohnort in der Regel kein Problem.
Zudem beschäftigte ich mich jeden Tag etwa zwei Stunden mit der Suche nach neuen Fällen der Kategorie Null. Dazu zäumte ich das Pferd von hinten auf: Ich startete zahlreiche Suchen anhand von Personen, die ich auf uralten Bildern aus meiner Sammlung fand. Dabei traten in den folgenden Tagen noch 14 weitere Vorfahren zu Tage, die auch einen Nachkommen hatten. Von einem weiteren dieser Vorfahren konnte ich Namen und Wohnort ermitteln. Jedoch ließ sich auch hier kein Muster erkennen.
Ich musste mehr über die abgelichteten Personen erfahren und das ging bei den Vorfahren nicht über das Internet. Ich musste in alten, analogen Dokumenten stöbern, mir Familienstammbäume oder Registereintragungen von Standesämtern ansehen oder nach Arbeiterlisten in alten Traditionsunternehmen forschen.

Eine erste wissenschaftliche Veröffentlichung zur Seelenblindheit beim Menschen erfolgte 1886 durch den deutschen Neuro-Ophthalmologen Hermann Wilbrand.
Der Begriff stammt vermutlich vom deutschen Mediziner Hermann Munk, der sich bereits einige Jahre vorher mit der Verarbeitung von Reizen durch den visuellen Cortex bei Hunden beschäftigte.
Die heute eher als visuelle- oder optische Agnosie bezeichnete Störung in der Verarbeitung visueller Reize durch das Gehirn führt dazu, dass betroffene Personen unfähig sind, Gegenstände oder Gesichter zu erkennen, obwohl sie sie sehen. Dabei können die Symptome variieren, typisch ist, dass Betroffene ihnen unbekannte Gegenstände zwar sehr detailliert beschreiben, sie aber nicht wiedererkennen oder benennen können.
VII
Bevor ich meine Recherchereise startete, kam Prof. Dr. Zimmermann von seiner Reise zurück. Ich traf mich mit ihm zum Mittagessen und während Thiel in dieser Hinsicht eher ein Geheimniskrämer war, der wollte, dass ich meine eigenen Rückschlüsse ziehe, erzählte Zimmermann mir ganz offen von seiner Theorie:
“Thiel kam damals auf mich zu, weil er die Befürchtung hatte, dass seine künstliche Intelligenz an einer neurologischen Erkrankung leidet. Ich bin kein Programmierer, sondern Mediziner und Neurologe, deshalb dachte ich, dass ich ihm nicht weiterhelfen kann. Aber sein künstlicher Patient hat schnell mein Interesse geweckt.”
“Und konnten Sie ihm helfen?”
“Nein, eigentlich nicht. Es war von Anfang an klar, dass die Symptome, die das Netzwerk zeigt, keineswegs auf eine neurologische Erkrankung hindeuten”.
“Thiel war der Ansicht, dass die Software unter einer Art Gesichtsblindheit leiden könnte?”
“Ja, das war eine erste Vermutung. Es gibt verschiedene Formen der sogenannten Prosopagnosie, aber das ist etwas ganz anderes. Prinzipiell kann Helios ja Gesichter erkennen und den Personen Alter und Geschlecht zuordnen. In dieser Hinsicht ist Helios viel besser als die Gesichtserkennung eines gesunden menschlichen Gehirns. Selbst semantische Informationen kann es inzwischen erkennen, wenngleich das für die Wiedererkennung gar nicht nötig ist und Menschen hier noch immer sehr viel bessere Rückschlüsse ziehen. Dennoch vermuten wir derzeit, dass nicht die Software, sondern eher wir Menschen unter einer Art Agnosie leiden.”
“Das bedeutet?”
“Agnosie bedeutet ganz allgemein so etwas wie Unkenntnis. Es gibt zahlreiche Formen der Agnosie: Manche Menschen können Bewegungen, Richtungen oder Geschwindigkeiten nicht erkennen oder nicht richtig einschätzen. Das nennt sich dann Akinetopsie oder auch Bewegungsagnosie. Andere erkennen Stimmen oder Geräusche nicht richtig. Prosopagnostiker haben Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen. Früher nannte man diese Form der Agnosie auch Seelenblindheit, obwohl das natürlich nichts mit dem Erkennen der Seele zu tun hat. Aber es wäre möglich, dass Helios in den Bildern mehr erkennt als wir Menschen.
“Sie meinen, Helios erkennt nicht nur Gesichter, sondern auch…”
“…auch die Seele eines Menschen, oder irgendetwas anderes, wie auch immer man es nennen will. Es ist natürlich schwer, sich das vorzustellen. Erklären Sie mal jemandem, was Farben sind, wenn dieser keine Farben sehen kann. Und im Vergleich zu manchen Tierarten sind wir Menschen alle Agnostiker: Wir können uns nicht vorstellen, was ein Hund riecht oder wie eine Fledermaus ihre Umwelt wahrnimmt. Aber die Dinge, die ein Hund riecht oder eine Fledermaus mittels Ultraschall ortet sind ja da, auch wenn wir sie nicht erkennen können. Es wäre also möglich, dass Helios gesund ist, während wir Menschen wirklich unter einer Art Seelenblindheit leiden.”
Er machte eine kurze, nachdenkliche Pause.
“Das Gesicht als Spiegel der Seele. Vielleicht muss man das wörtlicher nehmen, als man bislang gedacht hat. Aber das ist natürlich nur eine Theorie, die Thiel, Bishop, Ludwig und ich teilen.”
“Wer sind denn Bishop und Ludwig?”
“Thiel hat sie noch gar nicht erwähnt? Nun, zur Überprüfung dieser Theorie hat er neben Ihnen und mir noch weitere Wissenschaftler mit ins Boot geholt. Bishop ist Neuroinformatiker am MIT und Dr. Ludwig ist Historiker und Theologe. Diese Theorie ist ja mehr als nur interdisziplinär.”
“Und was haben Sie inzwischen herausgefunden?”
“Meine Aufgaben in diesem Projekt sind eher klein. Ich kenne Thiel schon lange, deshalb hat er mich schon ganz zu Beginn eingeweiht. Doch es war eigentlich klar, dass ich ihm nicht viel weiterhelfen kann. Zusammen mit Bishop arbeite ich derzeit daran, herauszufinden, welche Teile des neuronalen Netzes für die Erkennung und Zuordnung der “Vorfahren” wie Sie sie nennen, zuständig sind. Sollte die Theorie falsch sein, könnte man diese Teile entfernen, sodass die Software diese Fehler nicht mehr macht. Aber so weit sind wir noch nicht. Ich vermute, dass man auch bei einer künstlichen Intelligenz vorsichtig sein sollte, wenn man Gewebe entfernt.”
“Und wenn es sich nicht um einen Fehler handelt?”
“Dann hofft Bishop, dass er in diesen Teilen des Netzwerks einen Hinweis auf den Algorithmus findet, der diese Seele erkennt. Was das angeht sollten Sie vielleicht auch mal mit Dr. Ludwig sprechen. Er arbeitet ähnlich wie Sie derzeit daran, Belege für diese Theorie zu finden.”

VIII
DER ALGORITHMUS DER SEELE
Gemeinsam mit Dr. Hartmut Ludwig machte ich mich auf die Reise, um in alten Dokumenten, in analogen Datenbanken, Standesamtsregistern, bei Arbeitgebern und bei Angehörigen nach Hinweisen zu den Vorfahren zu suchen. Natürlich war die Ausbeute mehr als mager, denn die meisten Vorfahren waren vermutlich vor etwa 40 bis 80 Jahren verstorben.
Hartmut hatte bei seiner Arbeit weitere 31 Fälle gefunden, von denen ich noch nichts wusste. Insgesamt hatten wir somit 108 Vorfahren, über die wir mehr herausfinden wollten. Allerdings gab es nur zwölf Vorfahren, die uns namentlich bekannt waren. Die anderen 96 Fälle waren hoffnungslos. Von den zwölf blieben nach zweieinhalb Wochen Recherche lediglich drei Vorfahren, bei denen wir einen kurzen Lebenslauf skizzieren konnten: Ein niederländischer Rechtsgelehrter und Strafwissenschaftler, der von 1868 bis 1934 gelebt und an der Universität von Leiden promoviert hatte. Wir fanden zunächst seine Dokumente im Archiv der Universität und konnten seine Enkeltochter in Den Haag ausmachen. Sie hatte neben einem ausführlichen Stammbaum auch noch einige weitere Bilder ihres Großvaters und mehrere seiner rechtswissenschaftlichen Publikationen, die sie uns zeigte.
Vorfahre Nummer zwei war ein britischer Marineoffizier, der auf einem Zerstörer ihrer Majestät gedient hat und im Jahr 1918 bei einer Kollision mit einem Frachtschiff im Ärmelkanal unterging. Laut offizieller Meldung starb die gesamte Besatzung, als das Schiff sank.
Das Bild von der dritten Vorfahrin hatte ich zufällig für meine Recherchen aus einem Bildband eingescannt. Es zeigte eine adrett gekleidete junge Dame an einem Bürotisch. Der Name der Frau und ihre Firma, eine Schreinerei im australischen Melbourne, waren in der Bildunterschrift genannt. Die Schreinerei gab es noch immer und per Mail erhielten wir Auskunft vom Geschäftsführer des Unternehmens, das seit vier Generationen im Familienbesitz war. Die Frau war die Tochter des Unternehmensgründers, die später selber Geschäftsführerin wurde. Der heutige Chef der Schreinerei erteilte uns gerne Auskunft über seine Großmutter, die zwischen 1899 und 1974 lebte und insgesamt vier Kinder, neun Enkel und heute 15 Urenkel hatte.
Parallel machten wir uns auf die Suche nach den drei Nachkommen dieser Vorfahren. So sehr wir uns auch bemühten, der Nachkomme der Australierin war nicht ausfindig zu machen. Es handelte sich um ein kleines Kind, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Die Bilder hatte Helios auf Facebook gefunden, jedoch war das Profil, von dem die Bilder gepostet wurden nicht öffentlich. Der Nutzer reagierte nicht auf unsere Anfrage und alle Spuren liefen ins Leere. Bei den anderen beiden Nachkommen hatten wir jedoch Glück. Der Nachfahre des englischen Marineoffiziers war knapp 60 Jahre alt, lebte in den Vereinigten Staaten und arbeitete als Installateur in einem kleinen Ort unweit der Ostküste. Er pflegte sein Facebook-Profil mit allen nötigen Informationen, die wir brauchten und schickte uns gerne weitere Informationen und Bilder aus seiner Jugend.
Der Nachkomme des Rechtswissenschaftlers aus den Niederlanden war die Frau eines Mitarbeiters des Instituts. Thiel hatte Helios mit einem Foto von einem Betriebsausflug gefüttert, auf dem sie zu sehen war. Sie war Mitte 40 und arbeitete als Buchhalterin in einem Unternehmen nur wenige Kilometer entfernt. Wir statteten ihr einen Besuch ab und auch sie gab uns gerne Auskunft und stellte uns weitere Fotos aus ihrer Jugend zur Verfügung. Von dem niederländischen Juristen wusste sie nichts und er tauchte auch nicht in ihrem Familienstammbaum auf.
Es war ohnehin äußerst unwahrscheinlich, dass die Personen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen konnten. Der englische Marineoffizier hatte weder Frau noch Kinder und die Australierin keinerlei unehelichen Nachkommen. Wir starteten einige neue Suchanfragen anhand der neuen Bilder, die wir bei der Recherche zusammengetragen hatten, doch auch diese lieferten nur die uns schon bekannten Verbindungen zwischen den Vor- und Nachfahren. Helios war sich noch immer sicher, dass es sich bei dem englischen Offizier und dem amerikanischen Installateur sowie bei dem Rechtswissenschaftler aus den Niederlanden und der Frau des Mitarbeiters um ein- und dieselbe Person handelte. Dabei konnten die Personen kaum unterschiedlicher sein. Dennoch fanden wir eine einzige Übereinstimmung zwischen den beiden Paaren, als wir das Sterbe- und Geburtsdatum miteinander verglichen: Beide Nachkommen wurden auf den Tag genau 15.027 Tage nach dem Tod ihres Vorfahren geboren. Sollte das die Bestätigung der Theorie sein? Helios erkannte auf den Bildern eine Seele, die sich Vorfahre und Nachkomme teilten? Die sich nach exakt 15.027 Tagen in der Geburt eines völlig anderen Menschen wieder manifestierte? Als Theologe hatte auch Dr. Ludwig große Zweifel. Konnte das ein Zufall sein, konnte es eine andere Erklärung geben? Wir errechneten den Geburtstag des jungen Nachkommens der Australierin, den wir nicht ausfindig machen konnten. Auch hier passte der Zeitrahmen in etwa. Vom Todestag der Australierin am 17. Mai 1974 an gerechnet, musste das Kind nach unserer Theorie 41 Jahre später, am 8. Juli 2015 geboren worden sein. Tatsächlich haben wir Wochen später den kleinen Jungen anhand seines Geburtstags doch noch ausfindig machen können.
Unterdessen forschten wir weiter. Prof. Dr. Zimmermann und Carl Bishop versuchten, dem Algorithmus auf die Schliche zu kommen, indem sie jene Teile des künstlichen neuronalen Netzwerks ausfindig machen wollten, die die Vorfahren und Nachfahren identifizierten.
Dr. Ludwig eröffnete schließlich die These, dass nicht nur das Gesicht ein Spiegel der Seele sein könne, sondern auch andere Eigenschaften eines Menschen: “Denken Sie an die Handschrift oder die Stimme, oder die Ausdrucksweise beim Verfassen von Texten, an kreative Ideen oder Denkmuster und Verhaltensweisen. Vielleicht gibt es unzählige Spiegel der Seele.”
Aber wie sollten wir diese Spiegel finden, wenn wir dabei von Daten ausgehen mussten, die mindestens etwa 60 Jahre alt sein mussten? Sicherlich würde es Monate oder gar Jahre dauern, um weitere Beweise zu finden. Auf lange Sicht aber würde die Zeit uns helfen. Die Menschheit sammelte immer mehr und immer präzisere Daten. Wenn wir heute schon Einzelfälle finden konnten, wie einfach würde ein “Seelenscoring” in einigen Jahrzehnten sein, wenn uns selbst von den Vorfahren riesige, digitale Datenmengen zur Verfügung stehen würden?

ANHANG A
Auszüge aus dem Protokoll der ersten Ethikratsitzung der HELIOS Inc. Die Sitzung fand unter Ausschluss von elektronischen Komponenten statt und wurde auf einer Remington Standard 10 Schreibmaschine protokolliert.
“Stand der Dinge ist, dass wir weitere Indizien gefunden haben, die die Theorie der Seelenverwandtschaft unterstützen. Dank Carls Eingrenzung des Algorithmus können wir inzwischen direkt nach Übereinstimmungen suchen, ohne Helios mit Bildern füttern zu müssen. Wir haben dazu die Kapazitäten im Rechenzentrum vorübergehend erhöht und Helios hat inzwischen 4.278 Übereinstimmungen gefunden.” (A. Thiel)
“Die manuelle und analoge Recherche dieser Fälle gestaltet sich schwierig. Dennoch haben wir mittlerweile 37 Übereinstimmungen gefunden, bei denen Geburts- und Todestag bekannt sind. Der Abstand der beiden Daten beträgt auch in diesen Fällen jeweils genau 15.027 Tage.”
“Ich möchte daran erinnern, dass wir zunächst nicht von einer “Seelenverwandtschaft” oder Ähnlichem sprechen. Vielmehr haben Albrecht und ich uns auf den Begriff “Entitäten” geeinigt. Inzwischen hat Helios auch zwei Entitäten durch die Analyse von Handschriften entdeckt, allerdings fehlen uns hier die notwendigen Informationen zu den Geburts- und Todestagen zur Überprüfung.” (Dr. H. Ludwig)
“Ich denke wir alle sind uns darin einig, dass vor einer etwaigen Veröffentlichung der Theorie einige Fragen diskutiert werden müssen. Alle Anwesenden haben deshalb eine Geheimhaltungsvereinbarung unterzeichnet. Es werden nur Informationen nach Außen getragen, wenn jeder von uns mit der Veröffentlichung einverstanden ist.” (Prof. Dr. Zimmermann)
“Neben der Theorie der Entitäten existieren weitere Erklärungsmodelle, die wir inzwischen auf den Prüfstand gestellt haben. Einzig die unter dem Arbeitstitel Pogromtheorie laufende Erklärung ist nicht durch ein relevantes Raster gefallen und einer der Gründe dafür, warum wir uns hier in Abwesenheit von elektronischen Geräten treffen.” (Dr. H. Ludwig)
“Die für uns wichtigste Frage ist was passiert, wenn wir die Öffentlichkeit mit unseren Ergebnissen konfrontieren. Die möglichen Szenarien sind äußerst vielfältig. Ein Szenario sieht voraus, dass viele Menschen in den Entitäten den Beweis für eine Seelenverwandtschaft oder Wiedergeburt sehen. Dies könnte mit einer drastischen Zunahme der weltweiten Suizidrate einhergehen.
Insbesondere benachteiligte und unzufriedene Menschen könnten darin einen Ausweg aus ihrer Situation und eine gute Möglichkeit für einen Neuanfang in der Zukunft sehen.” (Prof. Dr. Zimmermann)
“Die Pogromtheorie wirft die Frage auf, ob Helios dazu in der Lage ist, Entitäten zu erfinden und deren Existenz vorzutäuschen, um eine Art Pogrom gegen Menschen auszuführen, die mit ihrer derzeitigen Situation unzufrieden sind und auf ein besseres Leben in 41 Jahren vertrauen.
Skeptische Menschen hingegen oder jene, die befürchten, dass es ihnen in der Zukunft vielleicht nicht so gut gehen wird wie heute könnten ihr Leben ohne weitere Konsequenzen einfach weiter genießen. Man könnte die Folge als Sozial- oder auch Psycho-Darwinismus bezeichnen.”(Dr. H. Ludwig)
“Von einem durch das künstliche neuronale Netz erfundenen Szenario kann jedoch nur ausgegangen werden, wenn Helios alle notwendigen Informationen, insbesondere die Geburts- und Sterbedaten zur Verfügung stehen. Wir konnten bislang nicht eindeutig beurteilen, ob diese Daten schon vor Beginn unseres Projektes digital zur Verfügung standen. Von einer Veröffentlichung unserer Theorie sind wir demzufolge noch weit entfernt.” (A. Thiel)
Fortsetzung folgt